Lustmarsch durchs Poesiegelände
Ein Versuch für Marzahn-Hellersdorf
Marzahn-Hellersdorf strahlt eine nicht erwartete Ruhe und Klarheit aus – das Areal scheint wie ein gelungenes Experiment. Marzahn ist ein idealer Ort – für die die ihn nutzen wollen. Ein Raum der Moderne – eine Promenade – wie ein Bach der seine Seen zwischen den Häusern speist. Ein Ort der uns Wörter finden lässt – die sich aus unseren Erinnerungen speisen.
Der Künstler ist ein fragender Besucher – der Bewohner ein Mittelsmann um gemeinsam Gedanken-Bänder zu bilden. Dann wollen wir die Wege beschreiten die wir oft gingen – mit einer anderen Haltung. Wir sehen was wir einst dachten. Es wird uns und den Ort ändern. Gedanken manifestieren sich in klarer Schlichtheit und ein leichter Wind umschließt eine neue Welt. Was bleibt ist vielleicht viel mehr als wir dachten. Und das große Raumschiff – welches die bunte Verheißung der Dingwelt brachte – glänzt noch in der Abendsonne …
Lustmarsch durchs Poesiegelände – Alltag und Weltsprache | Temporäre Intervention in Marzahn-Hellersdorf – Texte von Bazon Brock, Joachim Knobloch und Jugendlichen aus dem Bezirk | Berlin | 2015
Projektleitung: Joachim Knobloch | Konzept: Bazon Brock und Joachim Knobloch
Kooperation: Galerie M | JFE Fair | JFE Eastend
Dokumentation: Rüdiger Knobloch
Mit freundlicher Unterstützung der Rudolf Augstein Stiftung, des Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung und der Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Ausstellungsfonds Kommunale Galerien
Einladende: Juliane Witt, Bezirksstadträtin für Jugend und Familie,Weiterbildung und Kultur | Christina Dreger, Fachbereichsleiterin Kultur | Karin Scheel, Leiterin Galerie M | Ralf Metal, JFE Fair | Tim Becker, JFE Eastend
Mit einer literarischen Aktion von Bazon Brock wurde die Installation in der Galerie M eröffnet. Im Anschluss folgte der Lustmarsch – mit Wegbier und Wasser – zu den Plätzen der Installation: Victor-Klemperer-Platz – Altlandsberger-Platz – Wiesenpark – Alice-Salomon-Platz
Die Installation war 3 Wochen im Bezirk Marzahn-Hellersdorf zu sehen. Realisiert wurde eine Strecke aus 600 m Absperrgittern deren Segmente mit Textfragmenten auf PVC-Bannern bestückt sind. Ein entscheidendes Merkmal sind Texte aus den letzten Jahrzehnten von Bazon Brock – die eine spannende Verbindung mit Sätzen von Joachim Knobloch eingehen. Denn Bazon Brock geht in seinen Texten sowohl auf den Alltagsmenschen wie auch auf die Hochkultur ein. Die Texte von Joachim Knobloch sind verdichtete fragmentarische Erinnerungen des Künstlers und weiterer Personen – die sich als Teil eines kollektiven Gedächtnisses oder einer neuen fiktiven Persönlichkeit deuten lassen. Abhängig von den zur Verfügung stehenden Absperrgittern sind diese beidseitig oder einseitig mit PVC-Bannern bestückt. Ausgehend von den vorhandenen Freiflächen sind Segmente zwischen 10 und 30 m Länge installiert worden. Joachim Knobloch hat seine Texte auch in Kooperation mit Bewohnern von Marzahn-Hellersdorf entwickelt – indem er aus Gesprächen gewonnene Eindrücke und Erlebnisse verdichtete und sie dann in seiner subjektiv gefilterten Sichtweise auf die Banner bringt. Die Reduzierung auf scheinbar banale Situationen – die nicht konkret ortsgebunden sind – zeigt uns dann das worauf wir letztlich in existentieller Form zurückgreifen müssen.
Bazon Brock
Wir fordern Sie auf, alles in Ihrer Macht stehende zu unterlassen! Als Mensch kann ich dich nicht lieben, aber deine Mission verehre ich. Kunst anbeten verboten. Machen Sie keine Kunst, machen Sie Probleme! Der Kontext ist die Botschaft. Souverän ist, wer den Normalzustand garantiert. Die Vorhölle ist abgeschafft. Heimatlosigkeit für alle. Solange ich hier bin, stirbt keiner. Wo es keine Unterscheidungen gibt, da gibt es auch keine Bedeutungen. Große Männer sind gefährlich, weil kleine Leute ihre Gefolgschaft bilden. Wir müssen kommunizieren, weil wir uns nicht verstehen können. Große Taten sind die unterlassenen. Die einzig wirklich Handlungsfähigen wären die Alten, wenn sie es nur wüssten. Nur das Falsche ist als solches noch wahr. Das Alltagsleben erzwingt jene Vereinfachungen, die uns über die tatsächlichen Bedingtheiten unseres Lebens hinwegtäuschen. Sieg ist überhaupt für den Künstler nur das Pathos des Scheiterns. Avantgarde ist nur das, was uns veranlasst, neue Traditionen zu bilden.
Joachim Knobloch
Gestern hatten wir adeliges Essen von gestern. Am Morgen fragte Paula woher alles kommt und woraus alles sei. Vater sagte, dass Gott eine Trompete sein kann oder ein Sandkorn. Das mit der Trompete glaubt mein Bruder und ich das mit dem Sandkorn. Aschubaschu ist sein Schlachtruf, um Fliegen zu vertreiben. Wenn ich nicht einschlafe kommt bestimmt der Morgen mit der Mathearbeit nicht. Es gibt keinen Riss in der Welt nur die Dinge werden aktualisiert. Dann im Durchgang, sah er die See und hatte die Fahrkarte vergessen. Wird es noch Taschentüchertürme geben und wenn ich gehe, ist die Welt dann anders. Seine Hand ist warm und die Maschine atmet leise im Rhythmus für ihn. Der Gurkensalat bei meinen Grosseltern war immer mit Milch. Viele Stufen gelaufen – woher wissen die anderen wohin sie gehen. Im Garten vor der grossen Stadt brachte uns Oma köstliches Wasserbrot mit Zucker. Mein Opa und nicht der von Paula hat gesagt, dass Kartoffeln in den Keller gehören. Vater sagte auch, dass das, was mal im Loch vom Socken war vom Winde verweht sei.
Jugendliche von Marzahn-Hellersdorf
Wird meine Zukunft mit wahrer Liebe wie im Film? Ein Hund, ein Dinosaurier, ein Drache, eine Schlange – davon träume ich. Heute guck ich Bollywood-Filme mit meiner Mutter – bis wir wieder schweigend da sitzen. Wir setzen uns öfter auf die Wiese im Bürgerpark und da schlafe ich dann ein. Letztes Jahr kein Urlaub und zu viele Geschwister – ist langweilig gewesen. Manchmal bin ich über eine Stunde zu früh in der Schule und höre das Rauschen der Blätter. An der Holztreppe ging ich oft nur vorbei. Einmal bin ich da alleine hoch – da war eine schöne Wiese. Die Erwachsenen werden immer frecher, meckern, gehen selber über rote Ampeln. Kind mit Kopfschmerzen aus der Schule abgeholt … bei der Luft dort kein Wunder. Wer glücklich ist fühlt – wer unglücklich ist denkt. Heute habe ich mein Titelbild aktualisiert! Dieser Moment wenn du ins Badewasser eintauchst und nichts passiert. Wenn Kaffee günstig ist 3 mal Kaffee mitbringen!!! Dich mag ich! Hast genauso einen an der Klatsche wie ich. Es gibt Früchtequark mit Honig gesüßt … und wir laufen durch den Zoopark ohne Tiere …
Über das Projekt
Berlin ist eine Stadt der Bausünden. Schon vor dem Flughafen Willy Brandt gab es Brandwände, Baulücken und Großwohnsiedlungen. Doch während heuer im Innenstadtbereich die Bausünden als Potential gelten und mit Gärten, Malereien und Spielplätzen inszeniert werden, sind sie in der Peripherie immer noch Ausdruck für eine Zukunft und Lebensweise ohne menschliches Maß, Sinnbilder für soziale Kälte, konfliktreiches Wohnen, Anonymität, kurz: Verstädterung ohne Herz. Marzahn, Gropiusstadt, das Märkische Viertel drohen mit ihren Hochhäusern aus Platten gleich einem rohen Zeigefinger dem an Altbausubstanz, Kultur und Kulturen sowie inszenierter Lebensform reichen Zentrum. Kaum ein Kunstliebhaber, noch Künstler, der sich freiwillig in diese geplante Ödnis verläuft, in dem der Alltag der eingeborenen Massen stattfindet. Doch dies zu Unrecht, wie der Lustmarsch durchs Poesiegelände zeigte, den der Köllner Künstler Joachim Knobloch in Kooperation mit Bazon Brock und der Denkerei/Berlin in Zusammenarbeit mit Mahrzahner Jugendlichen entwarf.
Einen Raum der Moderne fand Joachim Knobloch in Marzahn-Hellersdorf vor, den er sich; dem Besucher und dem Bewohner der Viertel über eine inszenierte Promenade erschloss: Man begann den Spaziergang am Victoria-Klemperer-Platz, suchte sich durch Häuserblöcke zum Altlandsberger Platz, und schritt mit Entzücken ins Wiesental hinab, von wo aus man den Weg Richtung Alice-Salomon-Platz aufnahm, der letzten Station der Route. Zur Neustrukturierung dieses Spazierwegs bedient sich Knobloch Absperrgittern – ein für Berliner Kunst seit Olaf Metzel gebräuchliches Arbeitsmaterial. Diese Gitter sind bekannt durch Großveranstaltungen wie Konzerte, Fußballspiele oder Fahrradrennen, wo sie dazu dienen Grenzen zu markieren, große Freifläche zu gliedern und Massen zu lenken. In diesem Sinne wurden sie auch bei der temporären Intervention in Marzahn genutzt. Der Künstler versperrt durch sie den direkten Weg über die Plätze und Wiesen, ordnete sie aber gleichzeitig zu einem Parcours an. Die Absperrgitter wurden allerdings nicht nur als Grenzmarkierungen für eine neue Begehung genutzt, sondern – ebenfalls entsprechend zu Großveranstaltungen, wo sie als Werbeträger dienen – mit Bannern versehen, auf denen aphorismusartige Texte den vorbeiströmenden Passanten in twitterhafter Knappheit neue Ideen und Perspektiven auf Kultur- und Alltagswelt mit auf den Weg gaben. Die aufgedruckten Sätze waren dabei von den Künstlern Joachim Knobloch, Bazon Brock und Marzahner Jugendlichen aufgeschrieben: Von drei Generationen, die sich in der Gegenwart völlig unterschiedlich positionieren und ihr kritisch begegnen.
Bazon Brock hat gerade mit der Ausstellung „Lustmarsch durchs Theoriegelände“ das letzte Stadium seines Werkes, die eigene Musealisierung und Historisierung, erreicht: Die von ihm entworfenen Sätze entstanden über die letzten Jahrzehnte als Teile seines Werks in Auseinandersetzung mit der Hochkultur, mit der Sphäre von Kunst und Wissenschaft. Hier zu findende Sprachgewohnheiten werden in prägnanten Äußerungen imitiert und pointiert zu neuen Erkenntnissen überformt oder zu Sätzen, die Allgemeinplätze aufdecken: „Große Taten sind die Unterlassenen.“
Joachim Knobloch hingegen gehört der mittleren Künstlergeneration an, die gerade die Phase des Etablierens abgeschlossen hat und die ersten großen Projekte im öffentlichen Raum umsetzen konnte, wobei Knobloch der schnelllebigen Zeit entsprechend temporäre Interventionen entwickelt. Seine Arbeiten beziehen sich dabei auf den Alltag des 21. Jahrhunderts, der individuellen kleinen Welt des Durchschnittsbürgers. Diese ist auch Gegenstand der von ihm verfassten Sätze, wobei Knobloch seine eigenen Erinnerungen und die ihm vertrauter Personen als Arbeitsgrundlage nimmt und zu Floskeln verdichtet. So entstehen Aussagen, die sich als Teil eines kollektiven Gedächtnisses, aber auch als Aussagen einer fiktiven Persönlichkeit des 21. Jahrhunderts deuten lassen: „Manchmal wünsche ich eine Zugverspätung, um zu verweilen.“
Die Jugendlichen sind noch nicht gänzlich in die Erwachsenenwelt eingetreten. Viele betraten mit dem Lustmarsch auch zum ersten Mal die Sphäre der Kunst als Aktivisten. Ihre Aussagen imitierten die Sätze der Künstler und sind doch ihrer gelebten Realität am nächsten. Das Künstlertum der Jugendlichen entwächst ihrem Lebensalter: Als halbe Kinder stehen sie der Lebensrealität der Erwachsenen gegenüber, die sie in ihrer emotionalen Schieflage entblößen. „Wer glücklich ist fühlt – wer unglücklich ist denkt.“
Seitdem die Kunst in den 1960er Jahren die Galerien verließ, um ihren Betrachter im Alltag zu begegnen und den Alltag gleichzeitig durch minimale Intervention für kurze Zeit zu unterbrechen, war der knappe, einer Werbebotschaft gleiche Text immer wieder Material bildender Künstler, wie bei Lawrence Weiner oder Jenny Holzer. Durch ihre Texte brachten sie den zufälligen Betrachter zum Innehalten und Nachdenken, die Kunst war dabei, mit wenigen Worten die alltägliche Wahrnehmung zu irritieren. Die Intervention in Marzahn von Knobloch funktionierte ähnlich, wurde jedoch in der Kooperation dreier Generationen und in der Vielfalt der präsentierten Texte potenziert. Die Künstler beriefen sich dabei gemeinsam auf ein theoretisches Konzept, das der deutschen Romantik entwächst: „Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den Ur[sprünglichen]Sinn wieder. Romantisieren ist nichts anderes als eine qualita[tive]Potenzierung. Das niedrige Selbst wird mit einem bessern Selbst in diese Operation identifiziert […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es… (Novalis, „Fragmente“ (1799-1800)). So ist der „Lustmarsch durchs Poesiegelände“ auch ein Werk, das den Aphorismus als generationsübergreifendes Material der Gegenwartskunst feiert und das Potential der Peripherie entdeckt: Wo sonst findet man noch das Gemeine, Gewöhnliche, Bekannte, also das Authentische, als in den Berliner Großwohnsiedlungen? Wo sonst ließe sich also ein Poesiegelände entwickeln? Nur weit ab von der intentional inszenierten und damit unromantischen und prosaischen Innenstadt.
Vera Herzog